Wer ist Judas für mich?
Judas und die Gemeinschaft der heiligen Sünder
Der Fragehorizont. Homiletische Besinnung
Keine Person der Religionsgeschichte spiegelt den Zwiespalt und die ineinander verwobene Beziehung zwischen heilig und unheilig so wieder wie Judas.
Auf die Frage „wer war Judas“, erfolgt mit überwältigender Mehrheit die Antwort: „ein Verräter“.
Wozu wurde Judas nicht alles funktionalisiert, seine Geschichte hat gewirkt und wirkt bis heute, gleich ob er eine reale oder fiktionale Figur war.
Das Spektrum reicht vom Widerstandskämpfer, Nationalist und Sozialrevolutionär bis hin zum Miterlöser und zweiten Messias…
Er gilt als Prototyp des Verräters, der mit einem Kuss Jesus verriet., die tragischste und rätselhafteste Gestalt in der Bibel.
Er, der der Kassenverwalter der Jünger war (Joh 13, 21 f.), gilt als enttäuschter Jünger und Freund Jesu, der die Botschaft Jesu von ihm selbst verraten sieht.
In den biblischen Stellen, in denen Judas erwähnt wird (Mk 14, 10ff.; Mt 26,14f., 47f.; Lk 22,3f., 47; Joh 13, 21-30;) wird übereinstimmend nicht von „verraten“, sondern von „übergeben“ gesprochen, denn Jesus war eine öffentlich bekannte Person und musste nicht verraten werden. Dass Jesus „übergeben“ und nicht „verraten“ wird, erinnert an den leidenden Gottesknecht bei Jesaja (Jes 53, 12).
Das Motiv von Verrat zu sprechen, war vermutlich, dass er zum Sündenbock stilisiert werden sollte. Für Matthäus handelt Judas aus Geldgier, ein schwaches Motiv, denn dreißig Silberlinge sind eine demütigende Bezahlung. Bei Lukas und Johannes fährt der Satan in Judas und er ist nicht mehr in der Lage selbst zu entscheiden, was er will und tut. Bei Lukas verweigert Jesus den Kuss.
Der Kuss, das intimste Zeichen des Vertrauens zwischen zwei Menschen, missbraucht zum Zeichen der Täuschung und des Verrats? Was, wenn Judas Jesus nicht verraten wollte, sondern ihn dazu bewegen wollte, sich als Messias zu erkennen zu geben? Was, wenn Judas Jesus verrät, damit er seine Ideale und seine Hoffnung, die er auf Jesus gesetzt hat, nicht verrät?
In der jüdischen Tradition gab es den Kuss auf die Füße des Messias, der auch Messias-Kuss genannt wurde, als Zeichen der Anbetung Jesu Christi.
In der Apostelgeschichte (Apg 1, 18f.) kauft Judas mit dem Geld für den Verrat einen Blutacker und er stürzt zu Boden und sein Leib platzt auf. Matthäus (27, 5) wählt eine andere Art des Todes: Aus Reue über seine Tat und das begangene Unrecht erhängt er sich. Je später ein Evangelium geschrieben wurde, desto negativer wurde das Bild von Judas. Zum Schluss steht er für Verrat, Habgier, Falschheit, Heuchelei und Denunziantentum.
Paulus kennt keine Verratsgeschichte des Judas. Braucht er keinen Verräter und Sündenbock, weil für ihn der Mensch Sünder und gerecht zugleich ist und er den Menschen nicht auf eine Verhaltensweise und nicht nur auf Defizite reduzieren kann? Kann für ihn ein Mensch nicht durch und durch schlecht sein?
Seit Augustin und Luther ist Judas Prototyp für die Juden als Gottesverräter, dadurch sollte das Christentum vom Judentum abzugrenzen. Judas steht für Verrat und bedeutet Verrat!
Ein in Vorderasien und Südeuropa verbreiteter Baum wird Judas-Baum genannt, weil nach einer Legende sich Judas an einer „Cercis“ erhängt haben soll, dessen Blüten dann vor Scham erröteten
In judenfeindlichen mittelalterlichen Passionsspielen wurden und in bestimmten Regionen Deutschlands werden bis heute Ostern Judas-Puppen verbrannt als symbolische Bestrafung des Judas für seinen Verrat an Jesus.
Für den israelischen Schriftsteller Amos Oz (Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Ostfildern, 2018),) hat die Verratsgeschichte mit dem Ursprung des Antisemitismus zu tun und ist Judas die Verkörperung des „Tschernobyl des Antisemitismus“. Judas habe allein aufgrund seines Namens gut dazu gepasst zum personifizierten Juden zu werden, dem alles, was mit der Hinrichtung Jesu zu tun hatte, angehängt werden konnte.
Gleichzeitig gilt er als Mensch, der von Gott als Werkzeug seines Heilsplans eingesetzt wird und dadurch zum gehorsamen Verräter wird. „Ohne Judas kein Kreuz, ohne Kreuz keine Auferstehung.“ (Walter Jens)
Braucht Gott derart blutige und grausame Wege, um Erlösung herbeizuführen? Braucht Gott den Kreuzestod seines geliebten Sohnes oder brauchen ihn nicht vielmehr Menschen, um den Tod Jesu für ihre Erlösung und Rettung zu begreifen? Und brauchen sie Judas, um einen Sündenbock für die Hinrichtung Jesu zu haben?
Von Judas als Mensch und Person wissen wir wenig, er wird reduziert auf einen Aspekt seines Lebens.
Zum Schutz des Kindeswohles ist in Deutschland und der Schweiz bis heute der Vorname Judas verboten, kein Kind darf so genannt und auf diesen Vornamen getauft werden. In England hingegen ist es möglich.
In der Kunst, im Theater und Film und bei Schriftstellern hat die Judas-Gestalt große Aufmerksamkeit gefunden:
In der Kirche Maria Madeleine in Vezelay (Frankreich) ist an einem Säulenkapitel ein über 8oo Jahre altes Steinrelief zu sehen: Auf der einen Seite Judas, der sich mit einem Strick am Baum erhängt. Auf der anderen Seite Jesus als guter Hirte, der den toten Judas nach dessen Selbstmord auf den Schultern trägt. Ein Werk von einem unbekannten Künstler, das die Barmherzigkeit Gottes zeigen soll. Judas gehört auch nach seinem vermeintlichen „Verrat“ zu den Jüngern Jesu, denn „Jesus nimmt den Sünder an“ (EG 353). Kein Mensch ist hoffnungslos verloren. Christus gibt Judas nicht auf. Was für eine revolutionäre Sicht des Judas.
Für Schalom Ben Chorin gilt Judas als Vorbild des Glaubens, Prophet, Mitwisser und Mittäter des Erlösungswerkes, weil er an Jesus als Messias festhält (1935, Taufkirchen, Das Mal der Sendung): Judas Ischariot war der Gläubigste unter allen Jüngern, er wurde von Gott umarmt und als sein allerliebster Sohn nach Jesus bezeichnet.
Walter Jens, der für eine Seligsprechung des Judas plädiert, schrieb eine „Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ (Der Fall Judas, 9. Aufl., Stuttgart, 1995).
Der Schauspieler Ben Becker fasziniert Tausende von Zuschauerinnen mit einem Soloauftritt mit Texten von Walter Jens (Ben Becker, Ich, Judas – Der Film. 2017).
Lady Gaga singt ein Lied mit dem Titel „Judas“ (Album „born this way“, 2011), in dem sie Judas nicht auf den Verrat reduziert und sagt dazu: „`Judas´ ist eine Metapher und Analogie für Vergebung und Verrat und Dinge, die dich in deinem Leben verfolgen, und wie ich glaube, dass es die Dunkelheit ist, die letztlich in deinem Leben scheint. Jemand sagte mal zu mir, `Wenn du keine Schatten hast, stehst du nicht im Licht.´ Also handelt das Lied über das Waschen der Füße von Gut und Böse, und über das Verzeihen und das Verstehen der Dämonen deiner Vergangenheit, um letztendlich in deine Zukunft voranzurücken“. (Kevin Ritchie, Pop culture as religion: Lady Gaga explains the controversial biblical in her upcoming music video „Judas“ (nicht mehr online verfügbar) MSN, Microsoft, 26. April 2011).
Vgl.: Gospel „Judas. Lord oft he Lost“, 2021;
Henrike Tönnes, Jesus Christ Superstar, 2021, Judas ist eine Frau, das Musical erzählt die letzten sieben Tage von Jesus Christus aus der kritischen Sicht des Judas
Benedikt Kristjansson, No 149 Judas, Texte von Amos Oz, Arien und Rezitative von Bach, 2023
Mögliche Veranstaltungen
Filmabend in der Kirche, an dem der Film mit Ben Becker, Ich, Judas gezeigt wird - mit anschießendem Gespräch.
Musikabend mit Gesprächen und ausgesuchten Liedbeispielen
Bausteine als Anregungen für Gespräche und Predigten
Mein Bild vom Menschen
Wir machen uns Bilder von Menschen durch Begegnungen und Erfahrungen mit ihnen. Im Laufe der Zeit verfestigen sich die Bilder: Das ist typisch für dich, so kennen wir dich, so bist du eben. Oft wird dann eine Verhaltensweise oder Eigenschaft des Menschen zur Charakterisierung der ganzen Person.
Wir haben Bilder von Menschen vom „Hörensagen“, durch Bücher, Bildung, Schule und Medien, aber auch durch Gerüchte und Verleumdungen Diese Bilder verfestigen sich im Laufe der Zeit, manchmal durch Jahrhunderte. Sie werden zu Klischees und Stereotypen, zu Vorurteilen und Feindbildern und Menschen werden zu Sündenböcken für Katastrophen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen: Typisch deutsch, typisch Jude, typisch Palästinenser, typisch Russe…typisch Mann, typisch Frau…“die nehmen uns die Arbeitsplätze weg“, „die schleppen Krankheiten in unser Land“, „das Boot ist voll“.
Hat sich dieses Bild vom Menschen einmal festgesetzt, so ist es schwer, es zu verändern oder gar zu revidieren. Wer einmal in Verdacht geraten ist, gegen Normen und Gesetze verstoßen zu haben, hat es schwer, den Verdacht los zu werden und noch schwerer, rehabilitiert zu werden.
Ein Mensch ist mehr als mein Bild von ihm
Wie nehme ich andere Menschen wahr? Interessiere ich mich für sie, ihre Lebensgeschichte, ihre Motive und Beweggründe, sich gerade so zu verhalten, wie sie es tun. Was hat ihn/sie dazu gebracht, so zu werden und so zu handeln? Er/sie waren doch nicht schon immer so und sicher nicht so geboren. Wenn ich mich für die Lebensgeschichte eines Menschen ernsthaft interessiere, ihn ansehe und ihm zuhöre, behandle ich ihn mit Wertschätzung als Person. Ich nehme ihn wahr, begegne ihm mit Respekt, was wörtlich übersetzt „ansehen“ bedeutet. Versuche ich ihn als facettenreiche Person wahrzunehmen oder reduziere ich ihn auf einen Aspekt meiner Wahrnehmung, geleitet von meinem eigenen Interesse. So sehe ich zum Beispiel Luther als einen standhaften Reformator und Theologen des Kreuzes, aber er war zugleich auch ein Judenhasser und Türkenfeind.
Ein Mensch ist immer mehr als ich vor Augen habe. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an (1. Samuel 16, 7). Wenn mir bewusst ist, dass meine eigenen Wahrnehmungen Teile und Bruchstücke einer bunten, vielfältigen Person sind und das auch mein Verhalten zu ihm prägt, dann habe ich mit wenigen Ausnahmen erfahren, dass er sich mir gegenüber anders verhält als vorher.
Selbst wenn ein Mensch sich in meinen Augen völlig daneben benimmt und eine gänzlich andere Überzeugung vertritt als ich, kann und muss ich mich für ihn interessieren und ihn wahrnehmen. Denn: Desinteresse, Missachtung und Ausgrenzung führen zu Hass und Krieg. Ist das mit Feindesliebe gemeint? Den Feind nicht auf Feindschaft zu reduzieren, ihn wahrzunehmen mit seinen Motiven, Ängsten und Nöten: „Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen. Hat dein Feind Durst gibt ihm zu trinken“ (Römer 12, 20).
Mein Bild von Judas
Was fällt uns ein, wenn wir das Wort Judas hören, welches Bild haben wir von ihm?
Beispiele auswählen aus „Fragehorizont. Homiletische Überlegungen“ (siehe oben).
Der Kassenverwalter der Jünger Jesu wollte nicht, dass das Geld, das für die Armen als Unterstützung bestimmt war, für teures Salböl ausgegeben wurde (Joh 12, 1-8). Er wollte, dass Jesus entschiedener für die Entrechteten und Opfer einer Gesellschaft eintritt. Gleich ob er Jesus „verraten“ oder „übergeben“ hat, er bleibt der Jünger und Freund Jesu auch nach dem Verrat. So wie Jesus als guter Hirte an einem Säulenkapitel von Vizeley in Südfrankreich den toten Judas auf seiner Schulter trägt. Wenn ihr sagt „verloren“, sagt er „gefunden“. Wenn ihr sagt „verdammt“, sagt er „gerettet“. Wenn ihr sagt „nein“, sagt er „ja“. Wenn ihr sagt „Tod“, sagt er „Leben“.
Mir gefällt, dass Paulus nichts von Judas weiß oder ihn bewusst nicht als Verräter erwähnt, weil er davon überzeugt ist, dass der Mensch Sünder und gerecht zugleich ist ( Röm 7, 7-25), eben krummes Holz, das den aufrechten Gang übt. Für ihn ist jeder Mensch ein Heiligtum (1.Kor 3, 9,16), einmalig, schützenswert und ausgestattet mit einer unverletzlichen Würde. Begreift der Mensch sich selbst, jeden Menschen, ja jedes Leben als Heiligtum, dann versucht er so zu leben, dass die Früchte des heiligen Geistes in seinem Leben sichtbar werden: füreinander da sein – Freude teilen – friedensfähig sein – einen langen Atem miteinander haben – sich einfühlen können in andere – einander guttun – zusammenhalten – ohne Gewalt handeln – zur Eigenkontrolle fähig sein (Gal 5,23f.). Dann kann ich vielleicht auch darauf verzichten, die Welt einzuteilen in Heilige und Unheilige, in Gerettete und Verdammte, in Gewinner und Verlierer oder zu Sündenböcken zu erklären.
Judas ist für mich kein Heiliger und kein Unheiliger. Er ist ein Mensch und damit für mich viel mehr als ich vor Augen habe und begreife. Wir sehen, was vor Augen ist. Gott aber sieht das Herz
Wer bin ich?
Wenn ich mir bewusst mache, dass mein Bild von einem anderen Menschen immer nur bruchstückhaft und dadurch auch veränderbar und revidierfähig ist, dann kann ich auch verständnisvoller und barmherziger mit ihm umgehen. Erst recht, wenn ich weiß, dass auch mein Bild von mir selbst fragmentarisch und ambivalent ist.
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
(aus: Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung)